Aix-en-Provence Tübingens Partnerstadt |
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Zwischen den südfranzösischen Alpenausläufern und der sonnigen Küste des Midi liegen die ockerfarbenen Häuser von Tübingens Partnerstadt Aix-en-Provence. Die einstige Metropole am Fuße des Bergmassivs Ste.Victoire spielt für die Bewohner der mediterranen Region mit ihrer Universität und dem Appellationsgericht eine bedeutende Rolle. Den Besucher hingegen fasziniert das aristokratisch geprägte Flair der Platanenallee Cours Mirabeau, die Vielzahl der stetig plätschernden Brunnen und die stolzen Patrizierhäuser mit ihren kunstvoll verzierten Fassaden. Geschichte
Das kleine Plateau von Entremont gewährt den schönsten Ausblick auf Aix. Hier wurden Reste eines kelto-ligurischen Oppidums freigelegt. In dieser befestigten Siedlung herrschte der Stammesverbund der Salyer im 2. Jahrhundert v. Chr. über den westlichen Teil der Provence. Der Prokonsul Caius Sextius Calvinus zerstörte 123 v. Chr. das Oppidum und gründete ein Jahr später die erste römische Stadt in Gallien: Aquae Sextiae Salluviorum. Östlich des neu errichteten Militärlagers bereitete der Feldherr Caius Marius den anrückenden Teutonen 102 v. Chr. eine vernichtende Niederlage. Unter Kaiser Diocletian wurde Aquae Sextiae politisches Zentrum der Provinz Narbonensis II und gegen Ende des 4. Jahrhunderts Sitz einer Diözese. Im Mittelalter stieg die Stadt erneut in den Rang einer Metropole auf: seit 1182 regierten in ihr die provenzalischen Grafen. Der "gute König René" wählte Aix 1471 zu seiner Altersresidenz. Handel und Handwerk begannen zu blühen. Berühmte Künstler lebten am Hof des gelehrten Mäzens. Ein Jahr nach dessen Tod (1480) vermachte sein Neffe Karl von Maine die bis dahin unabhängige Grafschaft an die französische Krone. 1501 schuf Ludwig XII. in Aix das Parlament. Ein Sprichwort, nach dem dieses oberste Gericht der Provence neben dem Sturmwind Mistral und dem reißenden Fluß
Durance zu den drei Geißeln der Gegend zählte, bewahrheitete sich 1540. Das Parlament ließ im Gebirgszug Lubéron 2000 Waldenser blutig verfolgen. Die Französische Revolution, die in Aix 1789 den Grafen von Mirabeau zum Repräsentanten des Dritten Standes ernannte, bewirkte eine tiefe Zäsur. Sie degradierte die jahrhundertealte Metropole zu einer Unterpräfektur. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht verlor die Stadt an Bedeutung: Die Eisenbahnlinie Marseille/Lyon führte nicht über Aix sondern über Arles - ein ausschlaggebender Grund für die verpaßte Industrialisierung. Während des gesamten letzten Jahrhunderts träumte die "eingeschlafene Schöne" von ihrem vergangenen Ruhm. Erst der Beginn eines rasanten Bevölkerungswachstums im Schatten Marseilles riß den Provinzort nach dem 1. Weltkrieg aus seiner Lethargie. Seit jener Zeit hat sich die Einwohnerzahl auf 125000 vervierfacht. Das agrarische Aix-en-Provence ist einer modernen Wohnstadt gewichen, von der aus sich täglich ein großer Pendlerstrom nach Marseille und zur Petrochemie rings um den See Etang de Berre in Bewegung setzt. Auch Industrie - vor allem Datenverarbeitungsfirmen - hat sich inzwischen niedergelassen. Beherrschend bleibt aber der traditionell stark ausgeprägte Dienstleistungssektor (Universität, Rechtsprechung, Tourismus), in dem 60% aller Aixer beschäftigt sind.
Die Monumentalbauten der Antike fielen im Mittelalter der Zerstörung zum Opfer. Aus dem 4. Jahrhundert stammt die achteckige, von römischen Säulen getragene Taufkapelle der Kathedrale Saint-Sauveur. Diese Bischofskirche im Herzen der Altstadt vereint in sich sämtliche Stilrichtungen von der frühen Romanik bis zur Spätrenaissance. In ihrem gotischen Mittelschiff beherbergt sie den "Brennenden Dornbusch", ein dreiteiliges Altargemälde des provenzalischen Malers Nicolas Froment
(1435-1484). Um 1500 entstanden die aufwendig geschnitzten Eingangsportale. Ein Kreuzgang aus dem 12. Jahrhundert schließt mit seinen Doppelsäulenarkaden und dem steinernen Schmuck der Kapitelle direkt an die Kathedrale an. In unmittelbarer Nähe befindet sich das erzbischöfliche Palais, in dem heute flandrische Wandteppiche ausgestellt sind. Sein Hof verwandelt sich jeden Sommer zur Tribüne des internationalen Musikfestivals. Südlich des bischöflichen Viertels grenzt die Grafenstadt mit dem Rathaus und dem Justizpalast an. Hier steht eines der sehenswertesten Patrizierhäuser, von denen über 70 erhalten sind: der "Hôtel d'Albertas" in seinem gemäßigt barocken Stil. Zu den formvollendetsten Adelspalästen, die sich die Mitglieder des Parlaments im 17. und 18. Jahrhundert erbauen ließen, gehört der "Pavillon de Vendôme" am Westrand der Stadt. Im noblen "Quartier Mazarin" bestimmen die prunkvollen Aristokratenhäuser das Bild des gesamten Wohnviertels. Dort zeigt der "Hôtel dÆArbaud" eine kleine Fayence-Sammlung, und im Musée Granet, der einstigen Komturei der Malteser, sind neben Gemälden auch archäologische Funde aus Entremont zu bewundern. Mit historischen Krippenfiguren aus Ton und versteinerten Dinosauriereiern locken im nördlichen Teil von Aix das Heimat- und das Naturkundemuseum. Während der heißen Sommermonate laden die Platanen des Cours Mirabeau zum Flanieren im kühlen Schatten ein, und aus sämtlichen Gassen erklingt Musik. Lebhafte Märkte, Plätze mit Cafés oder Restaurants und ungefähr 30 verschiedenartig gestaltete Brunnen - von der pompösen "Rotonde" bis zur schlichten Viehtränke - schaffen die einzigartige Atmosphäre der Stadt des Wassers und der Musik. Ummauert und abgeschieden, von einem verwilderten Garten umgeben, erinnert ein unscheinbares Atelier auf einem Südhang an Paul Cézanne. Kinetische Kunst des Konstruktivisten Victor Vasarely verbirgt sich in einem Gebäudekomplex der neuen Wohnsiedlung "Z.A.C.".
Schroff und mächtig ragt es empor, untrennbar mit Aix verbunden: das Gebirgsmassiv Ste. Victoire, ein Lieblingsmotiv von Cézanne. Eine Straße, die seinen Namen trägt, zieht sich der steilen, zerklüfteten Südfront entlang und durch ein Tal am sanft abfallenden Nordhang zurück nach Vauvenargues, wo Pablo Picasso begraben liegt. In der Nähe der Ortschaft dehnt sich eine pinienbewaldete Hügellandschaft mit zwei türkisfarben schimmernden Stauseen aus - ein Naherholungsgebiet, das die Aixer besonders schätzen. Westlich der Stadt überquert der Aquädukt von Roquefavour, eine Nachbildung des Pont du Gard, das kleine Arc-Tal. Südlich, in der Ziegelei von Les Milles, wurden zur Zeit des Faschismus deutsche Exilanten und Juden kaserniert. Der ehemalige Speiseraum der Wärter, in dem mehrere Wandmalereien erhalten sind, soll als Museum über Internierung und Deportation in der Provence ausgebaut werden.
Zum benachbarten Minenstädtchen Gardanne weist ein 300 Meter hoher Schornstein unübersehbar den Weg. Das dortige Braunkohlekraftwerk stößt dieselbe Menge an Schwefeldioxyd aus wie der gesamte Industriekomplex am Etang de Berre. Trotz gravierender Umweltprobleme und des Massentourismus im Sommer beeindruckt die Schönheit der Provence: versteckte Dörfer im Hinterland, rauhe Hochflächen mit herrlicher Aussicht und duftende, blaue Lavendelfelder. Viele kulturhistorische Sehenswürdigkeiten sind von Aix aus schnell zu erreichen. Zum Beispiel die Zisterzienserabtei Le Thoronet nördlich der Korkeichenwälder des Massif des Maures, die Ruinen der mittelalterlichen Festungsanlage Les Baux in den Alpilles, das römische Erbe der Rhônestadt Arles oder der Vieux Port in Marseille, wo die Fischer frühmorgens ihre fangfrische Ware anpreisen.
In einer Partnerschaftsurkunde verpflichteten sich die Bürgermeister von Aix-en-Provence und Tübingen am 20. Oktober 1960, feste Kontakte zwischen den Verwaltungen der beiden Städte zu knüpfen und einen regen Austausch der Bürger, kulturellen Gruppen, Vereine und Schüler zu fördern. Über ein besseres gegenseitiges Verständnis hinaus sollten Aixer und Tübinger ein europäisches Bewußtsein entwickeln. Stabile Schulpartnerschaften sind mittlerweile entstanden, so etwa zwischen dem Kepler-Gymnasium und dem Lycée Militaire (1965), der Walter-Erbe-Realschule und dem Collège Rocher du Dragon (1979), dem Wildermuth-Gymnasium und dem Collège des Prêcheurs (1989). Daneben lernten von 1961 bis 1992 im Rahmen des Städtischen Schüleraustausches jedes Jahr 20 bis 30 Jugendliche aus verschiedenen Tübinger und Aixer Schulen die Partnerstadt, Familienleben und Schulalltag kennen. Post-Jumeleure aus Tübingen und Aix organisierten 25 Jahre lang zahlreiche Begegnungen, seit 1995 führen v.a. Kollegen aus Marseille den Austausch mit Tübingen weiter.
© 1988 |
Aix-en-Provence Aix-en-Provence in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Eine Stadt der Kirchen und Klöster. Bild links: Traditionspflege: Der "gute König René" beim Karneval. Bild rechts: Blumenmarkt auf dem Rathausplatz. Wohnsiedlung "Z.A.C." - unverkennbares Merkmal des modernen Aix-en-Provence. Im Hintergrund das Bergmassiv Ste. Victoire. Ausschnitt einer Wandmalerei in der Ziegelei von Les Milles. Weinfaß; und Artischocke als Wunschtraum der Internierten. Im Juli duften die blauen Lavendelfelder auf den Hochebenen nördlich des Lubéron. |